Positionen und Forderungen

Der Ernährungsrat Kassel und Region ist der zivilgesellschaftliche Zusammenschluss von Akteur*innen, die sich für ein zukunftsfähiges Ernährungssystem hier vor Ort einsetzen. Wir haben das Ziel, mit allen Akteur*innen der gesamten Wertschöpfungskette in und um Kassel die Ernährungswende gemeinsam voranzubringen. Deshalb haben wir mehrere Workshops mit Interessierten aus Erzeugung, Verarbeitung, Handel und Logistik sowie Gemeinschaftsverpflegung durchgeführt; aufbauend auf den Ergebnissen haben wir folgende Forderungen und Positionen erarbeitet (Stand Juni 2025):

Stärkung einer zukunftsfesten Landwirtschaft und einer regionalen Selbstversorgung

Pflanzliche Lebensmittel sind ein zentraler Bestandteil eines klimafreundlichen und resilienten Ernährungssystems und einer zukunftsfesten Landwirtschaft.1 Daher muss der Selbstversorgungsgrad mit Obst, Gemüse und pflanzlichen Proteinquellen erhöht werden.2

Wir setzen uns ein für:

  • Priorisierung und Förderung von regionaler Wertschöpfung, insbesondere von Verarbeitungs- und dezentralen Verteilungsstrukturen, wie z. B. Bündelzentren (Food Hubs). Hierfür können z. B. die Kommunen in Kassel und Region im Rahmen der Wirtschaftsförderung auch den Ernährungssektor einbeziehen und vor allem durch die kommunale öffentliche Beschaffung als Hebel direkt Wirkung erzeugen.3
  • Anreize für landwirtschaftliche Betriebe, vorwiegend pflanzliche Lebensmittel in ökologischer Qualität für die Humanernährung herzustellen.
  • Förderung und Intensivierung von Angeboten in der Aus- und Fortbildung in Anbau sowie Verarbeitung. Vom Schulgarten und Kinderkochkursen bis zur Hofübernahme und Kantinenleitung braucht es auf allen Ebenen Einstiegs- und Weiterqualifizierungsmöglichkeiten im Sinne des lebenslangen Lernens.

Gute und beitragsfreie Verpflegung in Kindergärten und Schulen

Kinder und Jugendliche benötigen eine gute Ernährung. Diese fördert die Konzentrationsfähigkeit und unterstützt nicht nur die körperliche, sondern auch die geistige Entwicklung der Kinder.

Wir setzen uns ein für:

  • Beitragsfreie Kita- und Schulverpflegung überwindet soziale Hürden und schafft Chancengleichheit, damit alle Kinder und Jugendlichen Zugang zu gutem Essen haben.4 Kassel soll hier Vorreiter sein.
  • Installation von Frischküchen in den Einrichtungen, wo nötig und sinnvoll, damit das Essen frisch, bioregional und klimafreundlich angeboten werden kann. Entsprechende Stellen für geschultes Personal müssen bereitgestellt werden.
  • Verbindliche Umsetzung der aktuellen DGE-Qualitätsstandards, die einen deutlich reduzierten Anteil an Tierprodukten empfehlen, als Mindeststandard und Unterstützung derer die bereits weiter voranschreiten in Richtung pflanzliche Ernährung.

Ernährung als öffentliche Daseinsvorsorge

Alle müssen essen. Eine gesundheitsfördernde und nachhaltige Ernährung für alle sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Aber für viele ist gesundes Essen derzeit zu teuer mit weitreichenden Folgen nicht nur für die Betroffenen, sondern für uns alle.5 Deswegen sollte Ernährung zur Daseinsvorsorge gehören.

Wir setzen uns ein für:

  • Einrichtung öffentlicher Kantinen, die gesundes, bioregionales und klimafreundliches Essen für alle anbieten – beitragsfrei oder zumindest zu einem bezahlbaren Preis (maximal 2€).6
  • Bis es diese Kantinen flächendeckend gibt, müssen insbesondere einkommensschwache Bevölkerungsgruppen stärker unterstützt werden. Daher muss die Höhe der Sozialleistungen entsprechend angepasst werden.7

Gemeinwohlorientiertes Ernährungssystem

Das Ernährungssystem ist wie alle anderen Bereiche unseres heutigen Lebens vom Kapitalismus geprägt: Preisdruck, das Prinzip Wachse-oder-Weiche und Abhängigkeiten von großen Konzernen der Agrarindustrie und des Lebensmitteleinzelhandels sind allgegenwärtig. Auch unsere Region ist von milliardenschweren Playern durchdrungen, unter anderem bei Mineraldünger8, bei der Geflügelschlachtung9, im Futtermittelhandel10 und im Einzelhandel durch eine unüberschaubare Anzahl an Supermärkten und Discountern. Entlang der gesamten Wertschöpfungsketten entstehen so Zwänge, Unfreiheiten und Ausbeutungsstrukturen zulasten von Bäuer*innen, Arbeiter*innen und Konsument*innen.

Wir setzen uns ein für:

  • Regionale, Mitglieder-getragene Geschäftsmodelle wie SoLaWis11 und Mitgliederläden12
  • Wertschätzung der Arbeit der Beschäftigten in der Lebensmittelbranche, was sich u. a. in einem verlässlichen und ausreichenden Einkommen ausdrückt.
  • Stopp weiterer Genehmigungen für Standort-Ausbauten oder die weitere Ansiedlung von Groß-Konzernen.
  • Stopp der Versiegelungen von landwirtschaftlichen Flächen
  • Vergabe von Flächen nur nach Prinzipien des Gemeinwohls.13

Schließung pflanzenbasierter Nährstoffkreisläufe

Eine deutliche Reduktion der Tierzahlen und des Konsums von Tierprodukten ist nötig für das Klima, die Umwelt, die Tiere und uns Menschen. Im gegenwärtigen Ernährungssystem sind jedoch viele Betriebe abhängig von tierischer Gülle, Futtermittelimporten und synthetischem Dünger, während gleichzeitig die nährstoffreichen menschlichen Ausscheidungen aus dem System genommen werden.14

Wir setzen uns ein für:

  • Deutliche Reduktion der Tierzahlen in Nordhessen – bis 2030 auf ein mit der Planetary Health Diet kompatibles Maß.
  • Nährstoffwende in Nordhessen zur Schließung der Nährstoffkreisläufe im Hinblick auf menschliche Ausscheidungen. Die Stadt Kassel sowie die Landkreise in Nordhessen sollen sich mit der Universität Kassel-Witzenhausen an entsprechenden Pilotvorhaben beteiligen. Unsere Region soll so zu einem Hotspot der Nährstoffwende werden – Arbeitstitel Shit Valley.
  • Aufbau von regionalen Infrastrukturen für die großmaßstäbliche Kompostierung und Pflanzenkohleerzeugung mit regionalen Bioabfällen, Grünschnitt und anderen organischen Materialien zur nicht-gewinnorientierten Abgabe an lokale Erzeuger*innen.

Stärkung des informellen Ernährungssystems

Neben den formalisierten Aktivitäten des Ernährungssystems, die oft der Marktlogik folgen, bestehen Praktiken fort, die teilweise seit Jahrtausenden gelebt und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Es wird geimkert und geangelt, es werden Pilze und Beeren gesammelt, Samen getauscht, Lebensmittel in Klein- und Gemeinschaftsgärten angebaut und geteilt. Als Ausdruck gelebter Nachhaltigkeit können diese Praktiken einen wichtigen sozialen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten, wenn den Leuten Fähigkeiten und Möglichkeiten (z. B. Ressourcen, Flächen, Rechte) dafür gegeben werden.

Wir setzen uns ein für:

  • Den Erhalt und die Wiederherstellung gesunder Ökosysteme, die einen unbedenklichen Verzehr ermöglichen – Verbot von Pestiziden, konsequente Entfernung von Müllablagerungen, niedrigschwellige Bildung für gute ökologische Praxis.
  • Vergesellschaftung und Entsiegelung von Parkplätzen und Brachen, sowie die Verwendung öffentlicher Flächen für essbare Gemeinschaftsgüter und offene Gärten.15
  • Das Recht auf eigenen Anbau von Lebensmitteln für alle.

Verringerung von Lebensmittelverschwendung

Weltweit werden fast 40 % aller Lebensmittel verschwendet.16 Und damit auch alle Ressourcen, die zum Anbau oder zur Aufzucht, zur Produktion, Verarbeitung und für die Verteilung benötigt wurden. Eine effizientere Nutzung von Lebensmitteln schont die Umwelt und bietet das Potenzial, dass mehr Menschen Zugang zu ausreichend Nahrung haben.

Auch in Deutschland werden jedes Jahr schätzungsweise 27 Millionen Tonnen genießbare Lebensmittel entsorgt.17 Der größte Teil davon bleibt schon auf dem Acker liegen – Obst und Gemüse, das nicht den Qualitätsanforderungen und den ästhetischen Standards des Lebensmitteleinzelhandels entspricht und gar nicht erst in den Handel gelangt.18

Um die Verschwendung an der Quelle, d. h. auf dem Acker, zu reduzieren, setzen wir uns ein für:

  • Die Förderung direkter Lieferbeziehungen zwischen Produzent*innen und Verbraucher*innen.
  • Die Förderung von Läden und Verteilern, die bei Obst und Gemüse keine ästhetischen Standards verlangen.

Ergänzend fordern wir:

  • Verbindliche Vereinbarungen für die Außer-Haus-Verpflegung der öffentlichen Hand, die die Abnahme und Verarbeitung von Lebensmitteln vorsehen, die aufgrund ihres Aussehens und/oder Größe nicht im Einzelhandel verkauft werden können, aber genießbar sind.
  • Förderung von Infrastrukturen, um Ernteüberschüsse und unverkäufliches Obst und Gemüse zu Aufstrichen und ähnlich Haltbarem zu verarbeiten.
  • Die Einführung einer Verpflichtung, genießbare Lebensmittel an gemeinnützige Einrichtungen zu spenden, anstatt sie zu entsorgen.19

Verankerung einer neuen Ernährungskultur

Essen anbauen, zubereiten und zu sich nehmen ist ein kultureller Akt, der uns jeden Tag mehrmals mit der Umwelt, der Geschichte und anderen Menschen in nah und fern verbindet. Mit unserer Ernährung können wir zu Artenvielfalt und Klimawandelanpassung beitragen, und einen bewussten Umgang mit unserem eigenen Wohlbefinden finden. Unser Körper besteht nicht zuletzt genau aus den Dingen, die wir tagtäglich zu uns nehmen.

Leider sind die Sichtweisen, den Mensch als ordnende Kraft über der Natur zu sehen20, Lebensmittel als Brennstoff für die Menschmaschine ‚einzuwerfen‘, und als Erstes an gesundem Essen zu sparen, auch wenn es andere Sparmöglichkeiten gäbe22 weiterhin verbreitet. Dementsprechend sind die Ökosysteme im Begriff zu kollabieren, ist der gesamtgesellschaftliche Gesundheitszustand schlecht und die Wertschätzung für essensbezogene Berufe gering.

Wir setzen uns ein für:

  • Essen und Ernährungssysteme als bewusster Inhalt in den Schulen. Neben Unterricht gehören dazu auch Schulgärten, Ausflüge zu Standorten der Lebensmittelproduktion und insbesondere das gemeinsame Zubereiten und Essen zusammen mit den Lehrkräften. Mittagspausen müssen dafür lang genug sein.23
  • Öffentliche Kampagnen und Aktivitäten wie z. B. Feierabendmärkte, Lange Tafeln, und saisonale Feste, die das Bewusstsein für lokal-saisonale Zutaten schärfen, gesundheitliche Erkenntnisse zielgruppengerecht kommunizieren und ernährungsbezogene Berufe wertschätzen.
  • Bei lebensmittelbezogener Werbung Bereitstellung von Werbeflächen nur noch für klimafreundliches und gesundes Essen.
  • Förderung von gemeinschaftlichem Gärtnern, Kochen und Essen. Dazu Ausstattung von Stadtteilzentren mit Küchen, so dass dort sowohl Kantinen für Alle als auch Kochkurse und Feste stattfinden können.

Fußnoten

1 Siehe z. B. https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg3/downloads/report/IPCC_AR6_WGIII_FullReport.pdf

2 Siehe z. B. https://idw-online.de/de/news819450

3 Sipple und Wiek (2023) haben einen Leitfaden für kommunale Instrumente für die nachhaltige Ernährungswirtschaft verfasst, welcher Instrumente in den Bereichen Regulierung, Ökonomie, Kooperation und Information vorsieht. https://www.dstgb.de/themen/gesundheit/praxisleitfaden-15-kommunale-instrumente-zur-staerkung-der-lokalen-nachhaltigen-ernaehrungswirtschaft/sipple-wiek-2023-kommunale-instrumente-fuer-die-nachhaltige-ernaehrungswirtschaft-neu.pdf?cid=w4m

4 Für Finanzierungsvorschläge und weitere Begründungen verweisen wir z. B. auf die Empfehlung 1 des Bürgerrats „Ernährung im Wandel“ (https://www.bundestag.de/resource/blob/984354/39efba25c218ee935e26f786abbce81c/Empfehlungen_buergerrat.pdf ). Grundsätzlich sind wir der Ansicht, dass die Finanzierung von gutem Essen für alle eine Top-Priorität sein sollte.

5 Dies ist vielfach belegt, vergleiche z. B. https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/gesund-ernaehren/wenn-der-teller-leer-bleibt-ernaehrungsarmut-bei-kindern-und-familien-93956

6 Um diese Maßnahmen finanzieren zu können sind Reformen des Steuersystems notwendig, wie sie u.a. vom VdK, Finanzwende e. V. oder vom Bundesrechnungshof gefordert werden.

7 Siehe dazu z. B. https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_upload/PDF_Dokumente/2023/Gutachten_Recht_auf_angemessene_Ernaehrung_und_Buergergeld_final_051223.pdf

8 K+S de.wikipedia.org/wiki/K+S#Öffentliche_Wahrnehmung_und_Kontroversen

9 Plukon Food Group Gudensberg, https://mittendrin-kassel.de/die-plukon-story-und-der-streik-in-der-fleischfabrik

10 Agravis Raiffeisen AG

11 Netzwerk Solidarische Landwirtsaft https://www.solidarische-landwirtschaft.org

12 https://bildung.vonmorgen.org/mitgliederlaeden

13 https://www.abl-ev.de/fileadmin/Dokumente/AbL_ev/Publikationen/2022_AbL_Gemeinwohlverpachtung.pdf

14 Hintergrundinformationen zur Nährstoffwende: https://www.naehrstoffwende.org/

15 Vergleiche z. B. https://essbare-stadt.de und https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg2/downloads/report/IPCC_AR6_WGII_Chapter05.pdf (S. 799)

16 https://wwfeu.awsassets.panda.org/downloads/driven_to_waste___the_global_impact_of_food_loss_and_waste_on_farms.pdf

17 https://www.duh.de/informieren/landwirtschaft-und-ernaehrung/lebensmittelverschwendung-stoppen/ackern-fuer-die-tonne/

18 https://www.duh.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/obst-und-gemuese-nicht-schoen-genug-deutsche-umwelthilfe-deckt-lebensmittelverschwendung-durch-ueberhoe/

19 Ausführliche Stellungnahme zu diesem Thema siehe z. B. https://www.bundestag.de/resource/blob/971178/b09c03dcf58177fa46f2256496c7fa1c/01_Stellungnahme_Marie-Mourad_oeA_16-10-2023_DE.pdf

20 https://www.ufz.de/nefo/index.php?de=48550

22 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/studie-anteil-lebensmittel-100.html

23 https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/sendung/japan-die-gesuendesten-schulkinder-der-welt-100.html